Yvette Sánchez
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Enrique Vila-Matas: Doctor Pasavento (2005)
YVETTE SÁNCHEZ (Universidad de San Gallen)
Enrique Vila-Matas hat mit der Publikation von Doctor Pasavento im Herbst 2005 seine letzten drei, thematisch eng gekoppelten Romane zur Trilogie Bartleby - Montano - Pasavento erklärt1, womit ich versucht bin, meinen Beitrag für Band I2 um eine Besprechung dieses neuesten Werks entsprechend zyklisch zu ergänzen. Bartleby und Pasavento proben den Rückzug aus dem Rampenlicht des - relativen - literarischen Erfolgs, sie verzichten, verweigern sich, machen sich aus dem Staub. War im ersten Roman Herman Melvilles Kopist die Leitfigur des Verzichts, so bildet nun Robert Walser das Rückgrat des dritten Teils der Trilogie. Vila-Matas schreibt mit Doctor Pasavento eine Walseriade: er setzt seinem grossen Idol, das schon in früheren Büchern präsent war und das er auch mit den Bartlebys der Weltliteratur aufgemischt hatte, ein eindrückliches ja bedingungsloses Denkmal3 . Der Schweizer Schriftsteller, der einsame Spaziergänger4 , über den Vila-Matas minutiös recherchiert hat, beherrschte wie kaum ein anderer die Kunst des Verschwindens, des Rückzugs in die Einsamkeit.
Der Madrider Verlag Siruela lässt Walsers Werk - inklusive Mikrogramme! - ins Spanische übersetzen, und zweifelsohne wird auch Vila-Matas' Roman zu dessen breiteren Rezeption im hispanischen Kulturraum beitragen.5
Während Vila-Matas' Protagonist verzweifelt versucht, aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, wurde dem Autor gleich nach der Publikation seines auch im Buchmarkt erfolgreichen jüngsten Romans aussergwöhnliche Aufmerksamkeit seitens des Lesepublikums und der Kritik zuteil (Pozuelo Yvancos für ABC, Masoliver Ródenas für La Vanguardia, Fernando Valls für Quimera, um nur ein paar der Rezensenten zu nennen): Bereits am Tag nach der Pressekonferenz fand sich das Buch am Flughafenkiosk in Barcelona in kurioser Nachbarschaft der 'Eva Lunas' dieser Welt aufgestapelt. Die Positionierung auf der spanischen Bestsellerliste ist umso erstaunlicher, als die Komplexität des Buches eine sehr aufmerksame, streckenweise wiederholte Lektüre erfordert. Vila-Matas' internationaler Durchbruch lässt sich überdies an den Übersetzungen seines Werks in 22 Sprachen ermessen.
Eine zwiespältige Haltung seinen eigenen Triumphen gegenüber scheint den Autor zum asketischen Exercitium des Erfolgsverzichts seines Protagonisten zu bewegen. So hat Vila-Matas bekannt, dass er persönlich zwar ausbleibende Zeichen der Anerkennung vermissen würde, andererseits aber auch der Interviewer und Fotografen überdrüssig sei; ganz zu schweigen von den jungen Schriftstellern, mit deren Manuskripten er in Erwartung einer Laufbahnbeflügelung überschwemmt würde.
Vila-Matas' Protagonist Pasavento verehrt Robert Walser für dessen frühen Verzicht auf "Ruhm und Grösse", ein "glücklich Gescheiterter" ("un feliz derrotado"), ein Verweigerer wie ein Versager, ein Erfolgsmuffel, für den Energie und innerer Erfolg Mangel bedeutet6, der nur in tiefen Regionen atmen kann, und dem in den Höhen von Prestige und Macht die Luft ausgeht.7 Pasavento lehnt die literarischen Eitelkeiten entschieden ab, die "oberflächliche", "zweifelhafte Ehre des Applauses" oder "Schulterklopfens", "die Bitte um lächerliche Autogramme" oder die "beliebigen nationalen Literaturpreise."8 (124) Umso mehr verehrt er den diskreten, ambitionslosen Walser9, der sich seine Unabhängigkeit durch Selbstminiaturisierung bis in die Handschrift hinein bewahrt - in Demut10, Anspruchslosigkeit, Entsagung und Unscheinbarkeit - und vor allem mit leiser Ironie. Aus dem selben Grund der "erzählerischen Mikroskopie" bewundert er Emmanuel Boves verkürzte, zerquetschte, hypertroph interpunktierte und gegliederte Sätze zur Verringerung der Textproduktion (S. 331). Damit ist Bove, nach Walser, Pasaventos wichtigste literarische Bezugsperson, die ebenfalls die Ästhetik der Diskretion und des Scheiterns kultiviert hat (S. 329).11
Romantitel
Die Suche des Romantitels war ein längerer Prozess. Mehrere Namen wurden dem Protagonisten und Psychiater anprobiert: Doctor Pasavento, Doctor Ingravallo oder Doctor Pychnchon. In einer Phase der Titelsuche nahm Vila-Matas das Zielder Hauptfigur ins Visier: Irse oder Alguien se ausenta verdrängten alle Psychiater, aber in letzter Minute machte der erste, ursprüngliche Name und Arbeitstitel doch das Rennen: Doctor Pasavento. Noch anlässlich des Vorabdrucks eines Kapitels in einer Barcelona-Monographie der englischen Zeitschrift Granta, deren spanischer Ableger von Valerie Miles und Aurelio Major herausgeben wird, trug der Roman den Titel Doctor Ingravallo.12 Besagtes "Schweizer" Kapitel mit der Pilgerfahrt nach Herisau (Kanton Appenzell) hat Vila-Matas dafür ausgewählt, weil die Episode für ihn das Kernstück des Romans darstellt.
Der fiktive Protagonist und Ich-Erzähler Andrés Pasavento, Literat (und Psychiater), umgibt sich mit einer ganzen Gruppe von Schriftstellerkomplizen, die Namen historischer Personen tragen und die das selbe Ziel des Verschwindens verfolgen: Robert Walser ist der Anker; Emmanuel Boves Foto ziert den Buchdeckel. Salinger, Blanchot, Artaud, Arthur Cravan, Sebald, Thomas Pynchon, Agatha Christie, Chateaubriand, Silvia Plath, Joseph Roth, der Chilene Juan Luis Martínez, Juan Marsé oder Miquel Bauçà sind weitere Vorbilder. Der bekannteste baskische Gegenwartsautor Bernardo Atxaga, der den Rückzug fast schon genüsslich kultiviert, gehört zwar zur direkten Besetzung des Romans, macht sich aber mit seinen seltenen Auftritten folgerichtig rar. Der reale Atxaga hält sich übrigens seit jeher hinter einem Pseudonym verschanzt und gibt sich der Obsession hin, um sich aus dem öffentlichen Leben radikal zurückziehen zu können, auch als "Person" verloren zu gehen - wie so mancher Bartleby, unter jahrelangem Verzicht auf den irdisch-literarischen Lärm, in Schweigen gehüllt, verstummt, versteckt in seinem abgelegenen baskischen Landhaus. Der fiktionalisierte Freund kann selbst auf einem Ausflug mit Schriftstellerkollegen13 auf die Insel Capri nicht umhin, plötzlich zu verschwinden, um uns mit dieser Caprice eine der unterhaltsamsten Episoden des Buches zu bescheren (S. 66).
Wie Atxaga durfte auch Dr. Bruno Kägi, der heutige Chefarzt der Psychiatrischen Klinik in Herisau, wo Walser 23 Jahre interniert war, bei seinem Einzug in den Roman den realen Namen behalten.
Mit an Chuzpe grenzender Selbstverständlichkeit springt Vila-Matas zwischen realen und fiktionalen Ebenen hin und her, kreiert einen lustvollen Mix von Erfundenem und Vorgefundenem, was genauso zu den literarischen Tarnungsverfahren gehört, die vom Protagonisten in seinem Vorhaben des Heteronym-gestützten Verschwindens zur Anwendung gebracht werden.
Mein Abschied von der empirischen Realität
Nun obliegt es aber üblicherweise der Literaturwissenschaft, solcher Konfusion vielfältiger Fiktionalitätsebenen entgegenzuwirken und der Leserschaft die Texte vermittelnd, ordnend und erläuternd näher zu bringen. Im Falle von Doctor Pasavento will ich es aber für einmal geniessen, zusätzlich Verwirrung zu stiften, da ich gleichzeitig als Romanfigur auftrete. Auch wenn ich damit meinen Abschied aus der empirischen Welt feiern muss und darf, bin ich in meinem Privatleben doch Yvette Sánchez, ich schwöre, ich bin's - soweit ich es wissen kann...
In meiner Dreifachrolle als Literaturwissenschaftlerin, private Person und fiktionales Wesen befinde ich mich vielleicht sogar in einer privilegierten Position, Mechanismen der Fiktionalisierung und Verdoppelung aufzuschlüsseln. Vila-Matas prägt und trainiert seine Stammleserschaft zu sehr auf Meta-Niveaus, als dass sie sich durch meine gegenwärtige Intervention beunruhigen oder stören liessen. Man wird mich also nicht der Spielverderberei oder der Desillusionierung des Fiktionalitätspaktes zeigen können - im Gegenteil.
Über das von Vila-Matas kultivierte Mittel des Autofiktionalen katapultierte mich wohl unser gemeinsamer Ausflug in die Psychiatrische Klinik Herisau, wo Robert Walser untergebracht war, im Handumdrehen mitten in die Romanwelt hinein und verwandelte mich mir nichts dir nichts in eine literarische Figur. Das gleiche Schicksal ereilte, wie schon gesagt, den Chefarzt der Klinik, als er angefragt wurde, ob seine Institution Vila-Matas-Pasavento als temporäres Refugium dienen könne. Das Gespräch mit Dr. Kägi bekam eine unerwartet grosse Bedeutung, und in einem Postskriptum eines E-mails vom 22. April 2005 beteuerte Vila-Matas, dass er auf einem Podium in Stockholm die Figur aus seinem neuen Roman derart in den Vordergrund gestellt hätte, dass Kägi in der schwedischen Hauptstadt richtiggehend berühmt geworden sei, "más conocido en Estocolmo que en Herisau."
Die Wirklichkeit wird vom Fiktionalen genährt, ja "konfiguriert" (S. 17), ist Abbild des Erfundenen, wodurch die Grenze zwischen den beiden Dimensionen notwendigerweise verschwimmen muss.14 Das Ich erträumt den dottore Pasavento, der es schafft, dann wieder zu verschwinden, um sich eine Reise nach Sevilla vorzustellen. Einige Wochen später wird sich diese Fiktion tatsächlich dem Leben aufdrängen.
Letztlich preist Vila-Matas' Poetik ganz nach dem Vorbild des Quijote die "Wahrheit" als höchstes Gut15 und stellt diese über die Unterscheidung Fiktion/Realität. Dabei unterstützt ihn sein Kollege Antonio Muñoz Molina, der von der "beunruhigenden Mischung" aus beidem, auch aus Wahrheit und Lüge spricht, die wir immer sind, oder von der Anverwandlung von Realität in Fiktion, die letztere als wahrer erscheinen lasse. Man erfinde Dinge so, wie sie sind, ganz nach dem Muster des Erinnerns, das ebenso erfindet, verdreht ("tergiversa"), analysiert, selektioniert und kombiniert, den Tatsachen mehr oder weniger untreu, doch mit dem Effekt, das wirkliche Schicksal kohärenter erscheinen zu lassen.16 Es geht um das Schaffen und Strukturieren von autonomen möglichen Welten, die im Sinne der dichterischen Wahrhaftigkeit glaubhaft erscheinen sollen, und um Repräsentation, Simulation und Illusion, nicht aber um die mimetische Reproduktion, die Klatschkopie einer empirisch überprüfbaren Wirklichkeit. Das Verschwinden soll der Wahrheitsfindung, Wahrhaftigkeitsfindung dienen (S. 368). Sie soll von der nicht transparenten Wirklichkeit (S. 377) wegführen hin zur Kunst als Schein zweiten Grades (S. 385) - durchaus auch im Sinn von Baudrillards Behauptung, dass die Simulation 'wahrer als das Wahre' sei. "[...] pensé, la verdad va por un lado bien distinto de la realidad y, por supuesto, también bien alejado de la ficción." (S. 378).
Selbstverständlich sollen die Diskretion gewahrt und die geheimen Mechanismen des freien fiktionalen Entwurfs nur dosiert offengelegt werden. Nicht anders als die allermeisten Romanautoren konzipiert Vila-Matas seine narrative Prosa um ein Lehrgerüst aus empirischen Erfahrungen und Wissen herum - mit einer Vielzahl erfundener Elemente. Die Figuren sind Bricolages, die aus Fragmenten einer oder mehrerer realer Biographien ersonnenen und mit phantasierten Attributen zusammengepuzzelt werden. Die Yvette Sánchez des Romans lacht, wie ich, und scherzt ausgiebig und gerne. Aber Vila-Matas hat meine ursprünglichen, tatsächlich gemachten Spässchen weggeschnitten, verschwinden lassen und stattdessen dieser romanesken Yvette genussvoll seine eigenen Elaborate in den Mund gelegt. Zugegeben, ich tanze gerne zu Miriam Makebas Pata Pata (S. 195).
Aber lassen wir diese anekdotischen Details beiseite. Eigentlich überflüssig, den Entstehungsprozess der Figur der "Yvette" zu erläutern, denn Vila-Matas selbst gewährt uns im Buch einen metaliterarischen Einblick in sein schöpferisches Vorgehen und zeigt uns live, "en directo cómo espontáneamente trabaja la imaginación creadora, cómo azarosamente se va construyendo una historia" (S. 31). Er legt sein spielerisches Prozedere offen ("jugaba a inventar historias", S. 90), mit dem er Geschichten erfindet, Figuren anfertigt wahlweise nach dem Prinzip der Babuschka-Verschachtelung, des Mosaiks oder des Palimpsests der Wirklichkeit, die sich mal verstellend, mal zersetzend, dann wieder einbalsamierend der Fiktion überlegt.
Der Roman erlaubt uns, der Entstehung des Doctor Pasavento beizuwohnen, was sich mit der Debatte um massgeschneiderte Gensequenzen assoziieren lässt, mit den Doktor Frankensteins von damals und heute, aber auch mit den Videospielen à la Sims, wo wir uns aus einer Unzahl detailliertester Optionen und Eigenschaften nach Lust und Laune Figuren entwerfen und immer wieder "andere Identitäten ausprobieren" (S. 369) können.
Muñoz Molinas Konzept gestaltet sich ähnlich: man nehme ein reales Modell, das dem Leben des Autors mehr oder weniger nah steht, und im alchimistischen Gebräu der Fiktion zeichne sich eine einzigartige Kreatur ab: "[...] pero lo más frecuente es que en las mejores aleaciones intervengan trazas de muchos modelos, cuyo origen dispar se equilibra en la veracidad del personaje."17
Dieser Prozess stützt sich auf den Fundus der Einbildungskraft, des Traums und der Erinnerungen, die über eine Verkettung von Zufällen miteinander verknüpft werden. Die Geschichten der kleinen, nur 80 Hausnummern zählenden Rue Vaneau symbolisieren dieses System der angehäuften Zufälligkeiten, oder vielmehr Koinzidenzen, und spiegeln die Erfahrung der vergleichenden Lektüren wieder, die um das Leitthema herum ein ebenso dichtes Netz von intertextuellen Zusammentreffen knüpft.18
Im Hotel Suède, Rue Vaneau, wird Pasavento von einer Ereigniskette und Zeichen aus einer ominösen Aussenwelt geradezu verfolgt. Gleich mehrere (auch politische) Begebenheiten stammen aus dem Botschaftsgebäude Syriens und betreffen ihn auf irgend eine paranoide Weise ("die Welt ist klein"), ebenso bergen die Apotheke der Strasse, die Gärten des französischen Premierministers, die Privathäuser, in denen früher Gide, Saint-Exupéry, Marx oder Niarchos wohnten, Reminiszenzen seiner Realität in sich. "Los mensajes de la realidad exterior siguen laborando incansablemente" (Vila-Matas, in einem E-mail vom 6. September 2005).19
Das Pendeln zwischen facts und fiction
Der Roman setzt ein mit der Absicht des noch namenlosen Ich-Erzählers, einen Essay über das Verschwinden des Subjekts zu schreiben; als passender Ort der Inspiration und ideale Kulisse wird das Schloss des Genrebegründers Montaigne gewählt. Aber bald schleichen sich Einbildungskraft und Traum ins Vorhaben ein, womit sich der Essay allmählich narrativiert und mit Erfundenem anreichert. Zweifelsohne ist Doctor Pasavento das erzählerischste Buch Vila-Matas', der die hybride Gattung des Roman-Essays mit fiktionalen Einblendungen pflegt. Was als reiner Essay à la Montaigne geplant war, nähert sich im Falle von Doctor Pasavento dem Modell von Tristram Shandy; ein immer deutlicherer, indessen krauser narrativer Faden wird darin gesponnen, und die nur essayistischen Digressionen fallen immer knapper aus. Diese sind im ersten Teil noch reichlich vorhanden, so immer dann, wenn der Ich-Erzähler nach Themen sucht und Material zusammenträgt, sich dokumentiert, indem er (wie schon im Bartleby-Buch) literarische Werke konsultiert, welche ähnliche Verfahren verwendet und die Ästhetik des Verschwindens praktiziert haben.
Auf der Zugreise im Dezember 2003 von Madrid nach Sevilla zu einem Podiumsgespräch über die Verbindungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das er mit seinem Schriftsteller-Freund Bernardo Atxaga führen soll, steckt sich Andrés Pasavento ein ähnlich paradox unbescheidenes Ziel: er trachtet danach, sich aufzulösen, vor dem Lärm des Literaturbetriebs zu flüchten20, ein Niemand zu werden wie sein grosses Idol, der Diener Walser, dem es an jeglicher Ambition mangelte, der nach dem "Kleinsten und Flüchtigen" strebte. Er war eine unnahbare Persönlichkeit, zog sich zurück an den Rande der gesellschaftlichen Ordnung, in die monastische Klausur der Irrenanstalten und auf seine einfachen, einsamen Spaziergänge.
In gleicher Weise wird Pasavento obsessiv versuchen, sich aufzulösen, zu verdunsten, zu verduften, von der Bildfläche zu verschwinden und in eine perfekt hermetische Anonymität (ohne Gesicht, S. 346) einzutauchen, immer auf der Suche nach Strategien der Sublimation und Entsagung. Im Rückzugsprozess unternimmt er verschiedene Reisen, ständig auf der Flucht von und auf der Suche nach seinem inneren Selbst, in einer grossen Spirale mit dem Zentrum "radikaler Einsamkeit".
Heteronymie und Heterotopie zur Tarnung
Der Ich-Erzähler und Schriftsteller Andrés Pasavento erfindet sich eine neue Identität, den Doktor der Psychiatrie21 mit rein privaten literarischen Neigungen. In seiner ausgedachten Biographie "infiltriert er sich eine zweite Kindheit", eine Jugend in den Bronx (S. 121 und 132); die Verdoppelung reicht sogar zu zwei Vätern (S. 212): dazu "stiehlt er auch Angaben von realen Personen", die er sogar teilweise für diese hinzu erfindet (S. 127). Schliesslich identifiziert er sich so sehr mit seiner Schöpfung, dass er ihr ein künstliches Gedächtnis implantiert, "un puzzle de diversas memorias" (S. 166). Die Erinnerungen von Andrés werden geradezu "pulverisiert" (S. 165), sein Ich löst sich langsam auf ("desintegración", S. 205). Die Konstruktion des Lebenslaufs des Psychiaters Pasavento soll den Schriftsteller Andrés verbergen.
Dabei lautet die magische Formel im Roman repetitiv: "imaginé" (S. 67), denn bekanntlich: "fortis imaginatio generat casum." (S. 37). Eine zum oben zitierten Bild der Alchimie passende auffällige Isotopie (infiltrar, implantar, pulverizar, artificial) beschreibt die Erschaffung einer künstlichen, literarischen Figur. Zudem tragen Heteronyme zur identitären Anverwandlung bei: Pasavento ist auch Pynchon im Hotel in Neapel, oder Ingravallo in Paris, Lokunowo oder Sevilla. Zwischen den drei Persönlichkeiten, Ingravallo, Pasavento und Pynchon pendelt er hin und her (S. 198); die Dreisamkeit schützt ihn aber nicht vor Einsamkeit (S. 218). Bei Vila-Matas fast überflüssig zu erwähnen ist, dass beide Heteronyme aus der literarischen Welt stammen.22 Die doppelte oder dreifache Identität ist natürlich nicht zuletzt gekoppelt mit der bei Walser diagnostizierten Schizophrenie. Dass beide, Pasavento und sein Idol, Stimmen hören (S. 183) ist ein weiteres Indiz für die Duplizität und ein Sinnbild der Erschaffung und Fiktionalität der Figuren.
Auf den ersten Blick scheint der Roman von einer Vielzahl von Psychiatern besetzt. Und bei einer oberflächlichen Lektüre können die in der Absicht der Camouflage erfundenen Identitäten die Leserschaft verwirren, genauso wie die Heterotopie der verschiedenen Schauplätze, von Montaignes Schloss bei Bordeaux bis zu den anonymen Hotelzimmern in Sevilla, Neapel und Paris, von den Sanatorien in Neapel und Herisau, oder von New York nach Lokunowo. Immer wieder werden reale mit apokryphen Namen vermischt, wohl auch in der Absicht, dem empirischen Leser die Spurensicherung nicht zu einfach zu machen, ihn zur Suche nach Ariadnes verfusseltem Faden zu stimulieren.23 Die topographisch-onomastischen Paarungen repräsentieren drei Romanteile: Morante/Neapel, Walser/Herisau und Bove/Rue Vaneau.
Das Buch ist viergeteilt mit Zwischentiteln, die alle das zentrale Thema des Verschwindens aufwerfen: der Reise nach Sevilla sind die ersten 18 Kapitel gewidmet; der zweite Teil mit 10 Kapiteln deckt den Aufenthalt in Neapel ab; in den 13 Kapiteln des dritten Teils geht’s nach Herisau; und im letzten Teil kehrt der Ich-Erzähler nochmals nach Herisau zurück, um sich dann unter anderem in Lokunowo, Sevilla und Paris zu verzetteln (36 Kapitel).
Pasaventos Experiment der Auflösung in sieben Stationen
1) Zuerst verbringt Andrés Pasavento eine Nacht in einem Hotel in Sevilla, kehrt nach Barcelona zurück, von wo er dann einer aleatorischen Reiseroute folgend nach Neapel fliegt. Den Namen dieser Stadt (S. 59) wie auch seinen eigenen (S. 70) enthält er uns lange vor.
Im Zentrum des Italienaufenthalts steht der Kontakt zu einem früheren Arbeitskollegen des Cervantes-Instituts. Schon damals litt Morante unter Gedächtnisschwund und gelegentlicher Geistesgestörtheit. Nun lebt er interniert in einem Sanatorium, wo Pasavento ihn besucht und bereits als Psychiater auftritt. Die gemeinsamen, ausgedehnten Spaziergängen der beiden machen deutlich, dass die Episode Vorbereitungscharakter besitzt auf das Kernstück des Romans um Robert Walser. Pasavento und Morante spiegeln das Verhältnis zwischen Walser und Carl Seelig. Das Doppelgängermotiv reicht bis zu den durch Morante verfassten Mikrotexten24, seiner Hilfe bei der Zimmerreinigung im Sanatorium, der Möglichkeit seiner fingierten Geistesgestörtheit (S. 111) oder dem Ohrring des Psychiaters Bellivetti (S. 96), den der Chefarzt in Herisau trug.
2) Nach elf Tagen schliesslich gelangt er auf dem Umweg über Paris (Rue Vaneau) in die Schweiz. Die Geschehnisse in Italien hat er schriftlich im Pariser Hotel festgehalten, wo, am ersten Tag des Jahres, in ihm in Isolation und einem Anflug von Verrücktheit (und ziemlich genau in der Buchmitte) der Wunsch keimt, nach Herisau zu reisen, an den Ort des Rückzugs seines Idols (S. 121).25
3) Im Appenzellerland, seinem persönlichen Patagonien und heiligem Gralsland (S. 230) am Ende der Welt, möchte er im Sanatorium gänzlich untertauchen (S. 168).26 Herisau ist kein Zufall.27 Den Klimax des Aufstiegs in das verschneite Dorf, zur Psychiatrischen Klinik und zum Friedhof, wo Walser begraben liegt, muss sich Pasavento allerdings erst noch abverdienen, und zwar mit einer angekündigten Lesung an der Universität St. Gallen, wo er aber einem literarisch interessierten und nun perplexen Publikum als Doktor Ingravallo ein Referat über Antipsychiatrie hält (S. 217), gefolgt von einem anschliessenden, für ihn gänzlich belanglosen, "irrelevanten" Essen, dessen frivole Note einen reizvollen, krassen Kontrast bildet zur aufgeräumt-asketischen, ja transzendenten Atmosphäre des Aufstiegs zur Walser'schen Pilgerstätte am nächsten Morgen. Der Ich-Erzähler beschreibt das Nachtessen als eine Art Verschnaufpause vor dem grossen Moment (S. 223).
Solange er seinem Meister und "Maskottchen" Robert Walser auf der Spur bleiben und privatisierend schreiben darf, ist es ihm einerlei, ob er in Herisau als Psychiater arbeiten kann oder aber als Verrückter interniert wird (S. 217). Andächtig wandert Pasavento durch die "schweigsame Landschaft" (S. 229) ausserhalb der zuerst sehr grau und trist erscheinenden Ortschaft im Appenzell; der Special Effect des überraschend einsetzenden Schnees trägt dann aber zu seiner wachsenden Faszination bei. Das Grab scheint ihm zu exponiert, Walsers Diskretionsanspruchs unwürdig; erstaunlicherweise kann er sich dagegen mit der Verfremdung der massiv vergrössert auf Leinwände gemalten Mikrogramme im Wartezimmer der Klinik arrangieren (S. 235).
Nicht zuletzt die sorgfältige und professionelle Vorbereitung im Bezug auf die Glaubhaftigkeit der Konstruktion von Figuren und Handlung führten Vila-Matas und seinen Pasavento nach Herisau. Im für ihn unerwarteten Gespräch mit dem Chefarzt28 Dr. Kägi, ging es um den möglichen Klinikaufenthalt eines gewissen spanischen Psychiaters namens Ingravallo. Allen Nachforschungen in der Wirklichkeit zum Trotz ist der Effekt der Glaubhaftigkeit in der fiktiven Dimension nicht gesichert: beim anschliessenden Mittagessen im Restaurant stellt Pasaventos Begleiterin im Roman (Yvette) seine wahre, zweite Biographie in Frage (S. 252). Tatsächlich vorgefallene und rein imaginierte, aber für wirklich verkaufte Handlungsabläufe sind nicht unterscheidbar.
4) Pasavento kehrt, nachdem er nur für kurze Zeit in Zürich untergetaucht war29, inkognito für elf Tage nach Herisau zurück und mietet sich dort im Appartmenthaus für Klinikangestellte ein, das der Chefarzt ihm (oder Ingravallo) beim ersten Besuch erst nach längerem Zögern in Aussicht gestellt hatte. Dort trifft er auf einen anderen Psychiater namens Farnese, der eine Theatergruppe leitet. Erneut nimmt die Formel "imaginé" überhand (fünfmal auf anderthalb Seiten, 264-265), wenn etwa vom berühmten Teatro Farnese in Parma die Rede ist, wo Pasavento allerdings so wenig war wie in der dortigen Kartause aus Stendhals Roman - und nicht einmal in deren Doppel in Sevilla, da er noch vor dem Podiumsgespräch verschwand.
Der zweite, längere Herisauaufenthalt gibt ihm die Möglichkeit, seine Walser-Zitate gehäuft in den Text einzustreuen. Er pilgert mehrmals zum Grab und zur Todesstelle im Schnee, dem "exakten Zentrum" seiner Welt (S. 267), der Stelle des definitiven Verschwindens.
5) Vom Nordosten der Schweiz gelangt Dr. Pasavento oder Dr. Pynchon30 wieder nach Paris (in ein zweites Hotel, das Lutetia), von wo aus die Reise labyrinthische und traumartige Dimensionen annimmt.
6) Das Spiel mit der Anhäufung und Vermischung erfundener und authentischer Namen31 wird im vierten und letzten Romanteil auf die Spitze getrieben. Pasavento deklariert seine Reise nach Patagonien als reine Simulation (S. 275, "iba diciendo en mis cuadernos que estaba en la Patagonia", S. 289), und das Hafenstädtchen Lokunowo wird plötzlich zu einem indischen, tatsächlich existierenden Pendant, Lucknow.32 Grenzenlos (S. 341) durch den Raum "surfend" - auch das Internet beeinflusst offensichtlich seinen literarischen Diskurs - streut Vila-Matas zwischen patagonische und indische eine ganze Reihe afrikanischer Ortsnamen ein.
Einsamkeit und "persönliche Abgründe" (S. 279), Projektionen des Phantoms Ingravallo nehmen mit jeder Reiseetappe zu. Im eingebildeten Lokunowo ("que, por cierto, tan escasamente real puede parecer a veces", S. 343), in das er sich schreibend versetzt, wohnt er zuerst in einem Duplikat des Pariser Hotels, dem Madeira, dann mietet er ein Studio, arbeitet als Gehülfe eines Psychoanalytikers, schläft jeden Mittwoch mit Lidia, einer jungen Prostituierten, und besucht die Gesprächsrunde einer Gruppe Psychiater. Verdoppelungen sind nun an der Tagesordnung (S. 324) und steigern das zunehmend labyrinthische Dispositiv, in dessen Irrungen und Wirrungen die Figur sich bis zum Verschwinden verlieren könnte. Nicht nur Pasavento, auch seine Schreibeinträge entgleiten auch uns Lesern zusehends.33
Damit nimmt die Konfusion überhand. Befinden wir uns nun in Paris oder vielleicht doch in Lokunowo? Als Leser des Romans reizt es uns, Pasavento nicht einfach im Dickicht der Hotelnamen - Hotels sind an sich schon Orte der Anonymität - entwischen zu lassen, auch wenn das sein Wunsch ist, sondern uns stur an seine Fersen zu heften. Dazu bedarf es wohl einer zweiten, aufmerksamen Lektüre des letzten Teils des Buches und überdies einer Internet-Suchmaschine. Pasavento selbst zeigt sich in der Inszenierung des Verschwindens immer wieder verunsichert, zwiespältig und sucht nach seinem Namen, indem er sich selbst "googelt", um den schwindenden Prominenzgrad zu messen (S. 377), auch auf die Gefahr hin, dass das verbreitete gesellschaftliche Phänomen des Google-Narzissmus bei zu hoher Trefferquote unvermeidlich in Paranoia umkippt34. Pasaventos Suchergebnisse fallen zwar fast beschämend moderat aus, und trotzdem diagnostiziert er sich auf seiner endlosen Flucht eine leichte Paranoia (S.334). An einen Mitbestreiter des Psychiatrischen Zirkels delegiert Pasavento die Aufgabe, als Chronist seine geheimnisvollen Geschichten von der Rue Vaneau niederzuschreiben, damit er selbst sich ganz auf seine Kürzesttexte des "mikroskopischen Erzählens" und die Suche der Wahrheit konzentrieren kann, die hinter Wirklichkeit und Fiktion oftmals schwer auszumachen ist (S. 358). Man erinnert sich an Baudrillards Hyperrealität, an die Verschleifung von Imaginärem und Realem mit der Simulation, womit die Wirklichkeit zur Wahrnehmungs- oder Ansichtskonstruktion wird und das Subjekt in der Zeichenmenge verschwindet.
7) Von Lokunowo geht’s drei Tage in die Ferien nach Sevilla (Hotel Zenit), dann wieder zurück mit Zwischenhalten in Teneriffa und Madrid (Hotel Miau). In Lissabon spielt sich eines seiner duplizierten Leben ab (S. 373). Am Ende will Pasavento-Ingravallo-Pynchon Lokunowo verlassen und landet in einer viele Kilometer entfernten Stadt mit Arkaden. Eine der Schreibinstanzen (Ingravallo) berichtet davon in der 3. Person (S. 388).
Während im Kernstück des Romans der Fiktionalitätsgehalt signifikanterweise am geringsten ausfällt, ja sich der Null annähert, konfigurieren sich darauf in einer Art "genetischem" Realismus35, bei zunehmenden Unbestimmheitsstellen (Ingarden)36 Simulation, Fiktionalität und modifizierte Zeit- und Raumerfahrungen. Der Protagonist wird zum orientierungslosen Phantom: "Me pareció que era el fantasma de mí mismo en fuga sin fin" (S. 359), "domicilio indeterminado" (S. 360). Identität und Raum kommen ihm abhanden: "No sabía quién era ni dónde estaba." Die krampfhaften Versuche, das Gedächtnis zu aktivieren äussern sich in der rekurrenten, ja exzessiven Verwendung der Verben des Erinnerns (S. 361, 365, 366) und der Isotopie von Nostalgie und Heimatgefühl, obwohl Lasten zurückgelassen werden sollen und die schreibende Persönlichkeit nicht nur zersplittert, sondern ein Niemand sein möchte (S. 372 und 376). Und dennoch fehlt bis zum Schluss die letzte Entschlossenheit zur kompletten Auflösung: "[...] alguien que ahora se va, pero se queda, pero se va. Pero vuelve." (S. 388)
Von einem relativ homogenen textuellen Kontinuum und einem konsistenten Konzept gelangt der Roman über radikale Komplikationen und hyperbolische Verästelung des Geschehens, über Interferenzen und Amalgamierung hin zu Suspendierung und letztlich Auflösung der restlichen Wirklichkeitssubstrate. Die komplementäre Übertragung des Demontageprozesses auf die Diskursebene schafft eine verschlungene37 Erzählstruktur im Schlussteil.
Symbiose mit Walsers Schreibweise
Die Schreibweise des gesamten Buches verrät die Walsersche Aszendenz. Man hat den Eindruck, dass die zahllosen, meist einsamen Spaziergänge Pasaventos als Erzählmodell den verlangsamten Rhythmus weiter Teile des Romans bestimmen. Vila-Matas selber kommentiert diese Entdeckung der diskursiven Langsamkeit in einem Mail (1. September 2005): sein paronomasischer Slogan lautet "Pasavento pasa lento." Nur einzelne Abschnitte, zum Beispiel die Reise in die Ostschweiz, treiben Plot, Dialoge und Handlung voran; die gemächlichen, kontemplativen, eher essayistischen Passagen werden dann von einem agileren und erzählerischen Andante abgelöst. Dieses Wechselspiel einer Dramaturgie der verschobenen Peripetien findet sich auch in Walsers Erzählstrom. Dieser mäandriert unberechenbar, fliesst mal so, dann wieder anders, fliesst ohne klare Richtung gleichsam im Abseits. Er bedient unsere Erwartungen nicht, sondern durchkreuzt sie, reisst sie aus festgefahrenen Mustern. Nebensächlichkeiten werden zur Hauptsache, bis diese wiederum abrupt fallengelassen wird. Walsers Sprachskepsis, seine heimliche Ironie haben bei Vila-Matas ebenfalls Spuren hinterlassen (S. 248) wie das Credo des Schweigens, der Unsichtbarkeit (S. 256), des Enigmatischen und - besonders in den Mikrogrammen ersichtlich - das Unstete, das Sprunghafte, die schiere Unmöglichkeit, Wurzeln zu schlagen. Eine Lesepraxis aus der Gegenwart mit einem ähnlichen Effekt auf die Schreibweise stellen zweifelsohne Pasaventos erwähnte Aktivitäten im Internet dar. Besonders reizvoll erscheint hier der Kontrast zwischen dem buchstäblichen Spaziergang (spatiare), wo man einen Schritt vor den anderen setzt, immer in der selben Landschaft linear, langsam, kontemplativ im Raum voran schreitend, und der grenzenlosen virtuellen Mobilität, dem Delirium des Labyrinths oder Alephs der Internet-Suchmaschinen (und eben auch der verzettelten Mikrogramme) im virtuellen Raum des Hyptertexts.
Reichhaltige Intertexte finden sich im Diskurs von Dr. Pasavento wieder - literarische in erster Linie, aber auch essayistische (philosophische und kulturwissenschaftliche Studien). Ein Fall impliziter Intertextualität stellt das darauf folgende literarische Beispiel dar. Die Taktik des Verschwindens zeigt sich bis in die Kapitelenden. Kapitel 26 aus Teil IV schliesst mit einem runden "Desaparecí." (S. 338) und Kapitel 29 mit einer ungerauchten Zigarette am Ohr (S.354). Kapitel 30 dann setzt ein Zitat des Komponisten Arnold Schönberg an den Schluss, das einmal mehr das Konzept des Rückzugs lanciert: "Quien quiera ir más allá deberá desaparecer." (S. 358), worauf der lapidare Satz des Ich-Erzählers folgt: "Ich machte das Licht aus." (S. 358). Genau da könnte man Reminiszenzen ausmachen aus den 'unvollendeten', unverhofft abbrechenden Erzählungen', Nadie encendía las lámparas, des grossen uruguayischen Schriftstellers Felisberto Hernández. Der zeitlebens – als Konzertpianist wie als Literat – mit seinen Projekten gescheiterte Künstler musste sich immer wieder als Bar- und Stummfilmpianist durchs Leben schlagen. Es gefiel ihm, die Erwartungen der Leser zu unterlaufen, ihnen den Ausgang der Geschichten vorzuenthalten, sie warten zu lassen, im (buchstäblichen) Schwebezustand zu suspendieren. Der Eindruck des Unvollendeten zieht sich wie ein roter Faden durch alle Kurzgeschichten. Die erste mit dem Titel "Niemand machte das Licht an" lässt Handlungen gar nicht erst zustande kommen. Sämtliche Versuche eines literarischen und musikalischen Recitals des Ich-Erzählers in einem Salon scheitern an der radikalen Unaufmerksamkeit seiner Zuhörer. Parallel zum schwindenden Tageslicht verstummen die Stimmen – synästhetisches fadeout – und: 'niemand machte das Licht an'. Die Erzählinstanz verschwindet abrupt.
Auch die von französischen Denkern (Foucault, Barthes, Baudrillard) geprägten Schlüsselbegriffe, wie das 'Verschwinden des Subjekts' oder der 'Tod des Autors' sind nicht spurlos an Vila-Matas vorübergegangen. Das Werk wird als feststehendes Gedankengebäude präsentiert, der Autor für tot erklärt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben bringt die These des Verschwindens des Autors auf den Punkt38: "Wie Foucault sagte, existiert der Autor nicht, er besetzt den Ort des Toten im Spiel der Schrift. Als Autor bin ich immer schon verschwunden, immer schon abwesend von meinen Büchern. Und es ist genau diese Abwesenheit, die sie lebendig macht, unendlich, sodass sie von anderen angeeignet werden können."
Der Autor macht dem Leser Platz, überlässt ihm das Feld. Spätestens wenn er das Manuskript dem Verlag übergibt, verabschiedet er sich vom Text, blendet sich aus. Also: Andrés, weiterschreiben! Dann schaffst Du es bestimmt irgendwann zu verschwinden, vom Winde verweht − Pasavento.
1 Diese liesse sich gut und gerne zu einer Tetralogie erweitern, wenn man das vierte und vorletzte Buch, París no se acaba nunca mit einbeziehen möchte. Es ist allerdings das einzige Werk, das nicht den Namen des Protagonisten im Titel trägt.
2 Yvette Sánchez, "Enrique Vila-Matas: Bartleby y compañía (2000)". Thomas Bodenmüller/Thomas M. Scheerer/Axel Schönberger (Hrsg.) Romane in Spanien. Band 1 - 1975-2000. Frankfurt: Valentia, 2004: 315-327.
3 Da sich im laufenden Jahr (2006) der Todestag zum 50. Mal jährt, organisiert das Walser-Archiv in Zürich eine Reihe von Anlässen (Ausstellung der Mikrogramme, Lesungen, ein Kolloquium an der Universität Zürich, ein Filmbeitrag mit dem Titel "Er, der Hut, sitzt auf ihm, dem Kopf." Programmübersicht auf <www.walser-archiv.ch>
4 Um nicht zu sagen flâneur, weil dieser Terminus für Walser fast unpassend gekünstelt wirkt.
5 Robert Walser, Escrito a lápiz. Micrograms I (1924-1925). Madrid: Siruela, 2005.
6 Jakob von Gunten: "Die Idee, ich könnte im Leben Erfolg haben, erschreckt mich." (Enrique Vila-Matas, Doctor Pasavento. Barcelona: Anagrama, 2005: 339). Übersetzung der deutschen Zitate aus Dr. Pasavento: Y. S.
Die deutsche Übersetzung soll erst im Herbst 2007 erscheinen, während die französische bereits jetzt auf den Markt kommt (Anfang März 2006).
7 Auch Doctor Pasavento konzipiert sein Scheitern räumlich, hört sich etwa das Stück Underground von Tom Waits an (Vila-Matas: 123 und 37).
8 Enrique Vila-Matas, op.cit., 124.
9 Wiederholt lässt Vila-Matas Walser direkt zu Wort kommen: "Ich will so wenig wie möglich auffallen." (161).
10 Das Scheitern von Walsers Figuren ist klein, zehrt von Melancholie, gehört zu Walsers lifestyle.
11 Unter mehreren Autoren, Gombrovicz, Jelinek, die dem diskreten Scheitern huldigen, fokussiert Vila-Matas Bove, weil er das Hochtrabende nicht mochte, das lapidare Erzählen vorzog. Bove beherrschte die "Ästhetik der Diskretion und des Scheiterns, wie Walser" und liess seinen Schriftstellerkollegen André Gide beim Schachspielen immer gewinnen, "weil ihn die Idee des Misserfolgs weniger verletzte als seinen Gegner" (Vila-Matas: 329). Das Hochtrabende war nicht sein Ding, vielmehr das kleine, mikroskopische kurz aufleuchtende ("a fogonazos") Erzählen (331).
12 Enrique Vila-Matas, "Doctor Ingravallo". Barcelona. Granta en español, 4 (2005): 255-277.
13 Es handelt sich um deren vier, alle mit authentischen Namen: neben Atxaga und dem Ich-Erzähler, Iñaki Abad, Ignacio Martínez de Pisón und Pedro Zarraluki (S. 63).
14 Luis Rafael Sánchez lässt grüssen mit seinem Diktum der verkehrten Welt, des Lebens, das die Literatur nachahme: "ricura, ricura, la vida plagiando la literatura."
15 Immer wieder spricht Andrés Pasaventos "innerer Bär" (S. 210) zu ihm, eine exzentrische Stimme, die ihn an die Wahrheit erinnert (S. 333).
16 "La memoria común inventa, selecciona y combina, y el resultado es una ficción más o menos desleal a los hechos que nos sirve para interpretar las peripecias causales o inútiles del pasado y darle la coherencia de un destino." Antonio Muñoz Molina, "El personaje y su modelo". Enric Sullà (Hrsg.), Teoría de la novela. Antología de textos del siglo XX. Barcelona: Crítica (Grijalbo Mondadori), 1996: 312.
17 Ibidem, S. 315.
18 Walsers Tod am Weihnachtstag im Schnee ereilt auch Sebalds Grossvater; Lobo Antunes kombiniert, wie Pasavento, die Schriftstellerei mit der Psychatrie.
19 Mit den im Roman beschriebenen Zufällen nicht genug: die Reihe von Verkettungen setzten sich über das Buch hinaus fort, etwa mit der slowenischen Übersetzerin, die ihre Kindheit mit der Rue Vaneau assoziiert, wo sie als Mädchen eine für sie mythische Zeit verbrachte.
Mitte März 2006 stellte der Autor vor Ort, im Hotel Suède, während einer Woche das Buch den französischen Journalisten vor.
20 Nicht Atxaga wird kneifen, sondern Pasavento selbst am geplanten Podiumsgespräch nicht erscheinen (erst mit einem Jahr Verspätung).
21 In einem E-Mail (9. Oktober 2005) deklariert Vila-Matas sein distanziertes Verhältnis zu dieser Berufsgattung: "El truco impío de la psiquiatría".
22 Von Thomas Pynchon und von der Figur des Kriminalkommissars Dr. Ingravallo in Carlo Emilio Gaddas Quer pasticciaccio brutto di Via Merulana (1946/47). Ein weiteres Heteronym, Maas, das er sich später zulegen wird, stammt von Pynchons Figur Oedipa Maas, aus seinem Roman The Crying of Lot 49 (1966).
23 Den Namen des erfundenen Schriftstellers Peter Mermet trug etwa auch Walsers Brieffreundin, die Büglerin Frieda Mermet, und Pasaventos Tochter heisst gleich wie Emmanuel Boves Tochter, Nora, die auf der spanischen Originalausabe abgebildet ist.
24 Auch Pasaventos Schrift in seinem Notizheft wird immer kleiner; zudem schreibt er mit Bleistift, weil das Ergebnis damit weniger dauerhaft wird als mit Tinte.
25 Nach mehreren Tagen totaler Isolation, mit einem Silvesterkater hat der Doktor schon surrealistische Visionen und sieht den Heizungsradiator in seinem Pariser Hotelzimmer lachen.
26 Ausgestattet mit einem alten Filzhut (das Geschenk eines Verrückten, Morante), einem bordeauxroten Wintermantel (ich erinnere mich das Modell am Autor selber gesehen zu haben) und dem Köfferchen mit seiner tragbaren Bibliothek (cf. Historia abreviada de la literatura portátil. Barcelona: Anagrama, 1985) macht sich Doktor Pasavento auf den Weg.
27 In seiner sorgfältigen Dokumentierung zu Walser stösst er immer wieder auf Schriften über den Ort, bei einem Pariser Antiquar zum Beispiel auf eine literarische Zeitschrift, die Interviews mit Walsers Pfleger in Herisau abgedruckt hat (S. 179).
28 Vor ihm hatte schon eine seiner Lieblingsschriftstellerinnen, Fleur Jaeggy, die Klinik besucht.
29 Die Stadt erschien ihm, wie Walser, zu hochnäsig (S. 264).
30 Wie sein zurückgezogen, anonym lebender Namensvetter und New Yorker Schriftsteller.
31 Vgl. die beiden genannten, verschwundenen New Yorker Schriftsteller: der fiktive John Weldon Smith und Thomas Pynchon.
32 Die Paronomasie führt vom 'neuen Ort', locus novus zum englischen 'gegenwärtigen Glück'.
33 Walsers verworrene Schreib-Labyrinthe in seinen Mikrogrammen werden in einer unlängst erschienenen Rezension ersichtlich. Dorian Occhiuzzi, "Inmersión en el laberinto walseriano". Quimera N° 269, April, 2006.
34 Cf. Aram Lintzel, "Kann man dich googeln?", in: Literaturen, 1/2 (Januar/Februar): 139.
35 Darío Villanueva, "El Realismo". Eric Sullà, op.cit.: 289.
36 Ibidem: 293.
37 Da wird auch ein Labyrinth-Spiel gespielt (S. 375).
38 Zitiert aus einem Mail an einen Journalisten: René Scheu, "Ich bin verschwunden". St Galler Tagblatt vom 18. Februar 2006: 24. |